Donnerstag/Freitag 11./12. Juni 87
Nach den Strapazen der gestrigen Etappe, lege ich heute einen Ruhetag ein. Die beiden Pässe, der 'Puerto de Otxondo' und der 'Col d'Ispéguy', mit ihren insgesamt 1000 Höhenmetern stecken mir noch gewaltig in den Knochen. Ich nehme mir vor, heute jede überflüssige Kraftanstrengung zu meiden und höchstens eine kleine Wanderung in die nähere Umgebung zu unternehmen. Der 'Camping Municipal' an der Avenue Fronton ist recht ordentlich geführt, auf besonderen Komfort wird allerdings wenig Wert gelegt. Dafür liegt er recht günstig in Ortsnähe an einem kleinen Flüsschen, der Nive. Über eine Fußgängerbrücke gelangt man zur 'Eglise Notre-Dame du Bout du Pont', einer gotischen Kirche aus aus dem 13. Jahrhundert, und direkt ins Stadtzentrum.
Eglise
Notre-Dame du Bout du Pont
Etwa 500 Meter in der entgegengesetzten Richtung, flussaufwärts, befindet sich der 'Pont d'Eyheraberry', ein enger, antik anmutender Brückenbogen, der deshalb wohl auch als 'Römische Brücke' bezeichnet wird, obwohl er erst im Jahr 1634 errichtet wurde.
Das Frühstück ist heute morgen etwas reichhaltiger als sonst: Frische Croissants, knackiges Baguette, Butter, Salami, Käse, Marmelade und mehrmals frisch aufgebrühten Milchkaffee. Der Schmaus zieht sich hin bis in die frühe Mittagsstunde und ist Balsam für Körper und Geist. Obwohl etwas träge geworden, unternehme ich anschließend noch einen gemächlichen Zug durch die Gemeinde, will auch einen Blick in die Kirche werfen, finde diese jedoch verschlossen, und entscheide mich statt dessen für eine Exkursion zur 'Römerbrücke'. Hier versuche ich, barfuss in der Flussmitte, mit aufgekrempelter Hose bis zu den Knien im Wasser stehend, die Spiegelungen des Bauwerks möglichst effektvoll auf Celluloid zu bannen.
'Römische Brücke'
Am späten Nachmittag, ich bin gerade dabei Wäsche zum Trocknen aufzuhängen, treffen Rucksacktouristen ein und lassen sich in unmittelbarer Nähe meines Zeltes nieder. Zwei junge Burschen, schwer bepackt mit Rucksäcken, die sie um Haupteslänge überragen. Wir kommen ins Gespräch. Von Holland kommend, wo sie vor gut zwei Monaten aufbrachen, seien sie auf dem Weg nach 'Santiago de Compostella', dem bekannten spanischen Wallfahrtsort. Und das zu Fuß! Sie hätten jetzt schon 2/3 ihres Wegs zurückgelegt, und vor ihnen lägen nur noch 700 km durch Spanien! Ihr Schuhwerk macht keinen besonders tollen Eindruck mehr. Meine diesbezügliche Bemerkung quittieren sie mit dem stolzen Hinweis, dies seien schon die zweiten Paar Turnschuhe, die sie bis hierher durchgelatscht hätten. Ich bin beeindruckt!
Zu Zeiten der großen Pilgerreisen, im Mittelalter, als die Menschen noch viel mehr Sünden abzubüßen hatten als heutzutage, war 'St Jean Pied de Port', zu Füßen des 'Col de Roncevaux', die letzte französische Etappe und Sammelstelle auf dem Weg nach 'Santiago de Compostella'. Der Ort scheint in dieser Beziehung auch heutzutage noch eine gewisse Anziehungskraft zu besitzen.
Morgen steht mir, mit dem Col d'Aphanize und seinen Steigungen von mehr als 10%, ein schwerer Tag bevor. Deshalb ziehe ich mich schon früh in mein Zelt zurück. Ich kann nicht gleich einschlafen und beschäftige mich gedanklich noch einmal mit den Ereignissen der gestrigen Etappe. Und da ist vor allem die irre Sache mit dem Pferd. Eine bizarre, haarsträubende Geschichte, die mir immer wieder im Kopf herum spukt, und die sich tatsächlich so zugetragen hat.
Gestern, am französisch-spanischen Grenzübergang bei Dancharia winkte man mich einfach durch. Die Grenzbeamten zeigten nicht das geringste Interesse, weder an meiner Person, noch an meinen prallgefüllten Satteltaschen. Vor mir lag der 570 m hohe Puerto de Otxondo, ein Pass, der immerhin mit Steigungen bis zu 9 % aufwartet. Doch noch verlief die Straße einigermaßen eben, und ich konnte ordentlich Fahrt machen. Frohgemut, nichts Böses ahnend, war ich gerade dabei mich schon mal mental auf die zu erwartende Plackerei einzustellen, da taucht plötzlich, am rechten Rand meines Gesichtsfeldes, dort, wo es unscharf zu werden beginnt, und die Wahrnehmung schon leicht getrübt ist, etwas auf, das absolut nicht in das ansonsten so gefällige Landschaftsbild passt. Im Straßengraben liegt ein Pferd! Ich bin schon gut 20 Meter weiter, als mir die Abnormität des Gesehenen jäh bewusst wird. Sie trifft mich wie ein Schlag. Ich kehre um. Und tatsächlich, da liegt ein Pferd im Graben, halb auf der Seite, halb auf dem Rücken, die Beine zur Straße hin ausgestreckt. Der Anblick hat etwas Unwirkliches, Schockierendes. Ich lege das Rad am Straßenrand nieder und steige dann halb in den knapp einen Meter tiefen Graben hinab, um mir das Ganze etwas genauer anzusehen. Das Pferd macht nicht nur einen sehr gepflegten, sondern leider auch einen recht toten Eindruck. Es atmet nicht mehr, jedenfalls kann ich keine Atembewegungen feststellen. Auch machen sich an den weit geöffneten Augen schon Schwärme von Fliegen zu schaffen, die bei meinem Erscheinen, in einer unangenehm surrenden Wolke wütend auseinander schwirren. Auf der mir zugewandten Seite des Kadavers sind keinerlei Verletzungen zu erkennen. Das braune Fell glänzt vor Sauberkeit und scheint erst vor kurzem gestriegelt worden zu sein. Die lange Mähne ist tadellos gebürstet.
Heute Nacht muss es hier geregnet haben, denn beim Verlassen des Grabens komme ich auf der noch feuchten Erde ins Rutschen und wäre beinahe auf das Pferd gestürzt. Nur der reflexartige Griff in einen nahen, leider ziemlich stacheligen Ginsterbusch verhindert Schlimmeres. Wieder auf der Straße sehe ich mich unschlüssig um. Weit und breit ist keine Behausung, kein Mensch zu sehen. Mir wird klar, dass es hier für mich nichts zu tun gibt. Ich will soeben das Rad erklimmen, da ertönt in der Ferne, aus der Richtung aus der ich gekommen war, das Geknatter eines Motorrads. Dieses kommt langsam näher und entpuppt sich allmählich als Moped. Auf ihm sitzt, sich immer wieder nach allen Seiten umsehend, Louis de Funès! Zumindest sieht der Typ auf dem altersschwachen Vehikel dem französischen Filmkomiker wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Louis macht einen besorgten, irgendwie gehetzten Eindruck, und als er das Pferd erblickt, ergreift ihn blankes Entsetzen. Unsanft und unter lautem Getöse stößt er das Moped ohne es abzustellen auf die Straße und springt mit einem einzigen, gewaltigen Satz in den Graben. Der Fliegenschwarm fühlt sich erneut belästigt und schwirrt erbost aufbrausend hoch. Louis nimmt davon keine Notiz. Über das Pferd gebeugt befühlt er den Hals des Tieres. Er verharrt eine Weile in dieser gebückten, mir abgewandten Haltung. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, ahne aber, was in ihm vorgeht. Er muss irgendwie für das Pferd verantwortlich gewesen sein. Vielleicht ist er Stallknecht, oder gar der Besitzer. Jedenfalls scheint er ein sehr inniges Verhältnis zu dem Tier zu haben, denn als er endlich nach oben kommt, hat er Tränen in den geröteten Augen. Ein erbarmungswürdiger Anblick, der auch mir den Hals etwas enger macht. Louis' Trauer ist nicht von langer Dauer, denn als ihm meine Anwesenheit bewusst wird, schlägt seine Stimmung augenblicklich um. In meiner bunten Radlerkluft scheine ich auf ihn wie ein rotes Tuch zu wirken. Aufgebracht redet er auf mich ein, auf spanisch, versteht sich. Auch ohne Spanischkenntnisse bekomme ich mit, dass er mich für den Missetäter, für den Verursacher dieser Tragödie hält. Er gerät unvermittelt in Rage und kommt wild gestikulierend auf mich zu. Ich weiche, auf einen genügend großen Sicherheitsabstand achtend, langsam zurück und versuche ihm zu erklären, zuerst auf englisch, dann auf französisch, dass ich mit der ganzen Sache nichts zu tun habe und selbst erst vor ein paar Minuten hier angekommen sei. Er versteht mich nicht und tobt weiter. Plötzlich scheint er zu bemerken, dass seine Ausführungen bei mir nicht gerade auf fruchtbaren Boden fallen. Er stutzt einen Moment und faucht mich dann in beinahe akzentfreiem Deutsch an: "Was hast du gemacht, wie ist das passiert?" Ich beteuere erneut meine Unschuld und gebe meine Vermutung kund, ein Auto habe sein Pferd angefahren, dieses habe dabei einen tödlichen Schock erlitten und sei in den Graben gestürzt. Louis denkt einen Augenblick nach, findet offenbar, dass es so gewesen sein könnte und verfällt wieder in tiefe Trauer. Etwas hilflos suche ich nach trostreichen Worten, doch, so sehr ich mich auch anstrenge, außer der gängigen Formel, "Kopf hoch, das Leben geht weiter", fällt mir nichts Geeignetes ein. Louis scheint keinen Sinn für derartige Platituden zu haben, denn er stiert weiter, irgendwelche finsteren spanischen Verwünschungen murmelnd, in den Graben.
Bestrebt, weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, schwinge ich mich kurzerhand mit einem knappen "adios, buenos dias!" aufs Rad, und mache, dass ich weg komme. In den steilen, schweißtreibenden Passagen des Puerto de Otxondo bekomme ich langsam den Kopf wieder frei, und die ansprechende Landschaft der Pyrenäen hilft mir die bedrückende Stimmung erfolgreich zu verdrängen.
Mittagspause auf dem Otxondo-Pass